Ein Gedicht der Sappho

P. Köln inv. 21351+21376


Sappho, die früheste und berühmteste Dichterin des Altertums, lebte um 600 v.Chr. auf Lesbos. Bis ins 7. Jh. n.Chr. wurde sie immer wieder gelesen und abgeschrieben. Das abendländische Mittelalter hat die weibliche Erotik in ihren Gedichten jedoch mißbilligt, so dass keines von ihnen direkt weitertradiert worden ist.

Neben speziellen Ausdrücken und Formen in der von Sappho und von ihrem Zeitgenossen Alkaios verwendeten äolischen Dichtersprache kannte man daher lange Zeit nur die Zitate eines vollständigen und eines weiteren zu längeren Teilen erhaltenen Gedichts, dessen Anfang zudem von Catull ins Lateinische umgedichtet worden war.

Erst die Ende des 19. Jahrhunderts einsetzenden Funde griechischer Papyri in Ägypten brachten zahlreiche Fragmente von Sappho und Alkaios zutage. Dadurch wurde deutlicher, in wie kunstvoller Weise die Dichterin die weibliche Sicht auf ihre Lebenswelt und die Empfindungen, die sie zu den sie umgebenden Personen hegt, in ihren lyrischen Versen zum Ausdruck bringt.

Ein wichtiger bis dahin noch unbekannter Aspekt wurde 2004 durch die Edition des Kölner Papyrus inv. 21351+21376 hinzugewonnen. Es handelt sich um den bislang ältesten noch erhaltenen Textzeugen Sapphos.

Hier lernen wir erstmalig die Sicht der Dichterin auf das Alter kennen. Sie beklagt den Verlust an Schönheit und Spannkraft, den ihr das Alter zugefügt hat, und der ihr den Reigen zusammen mit ihren jungen Gefährtinnen verwehrt. Doch tröstet sie sich damit, daß kein Menschen vor dem Alter und seinen Folgen geschützt ist. Denn selbst Tithonos, den Eos, die Göttin der Morgenröte, zu ihrem jugendlichen Geliebten erkor und unsterblich werden ließ, ist ungeachtet seiner göttlichen Gemahlin vom Alter nicht verschont geblieben:

[- - -] der purpurgegürteten [Musen] schöne Geschenke, Mädchen,[ - - - ] die den Gesang liebende, helltönende Leier. [- - - die] einst [zarte] Haut (hat) das Alter schon [- - - weiß] geworden sind die Haare aus schwarzen, schwer ist mir das Herz gemacht worden, die Knie tragen nicht, die doch einst leicht waren zum Tanzen, jungen Rehen gleich. Ich seufze darüber oft. Aber was kann ich tun? Alterslos kann man, wenn man ein Mensch ist, nicht werden. Sagte man doch, einst habe den Tithonos die rosenarmige Eos, als sie ihren Leib der Liebe überließ, zum Ende der Erde fortgetragen, und er war schön und jung, aber dennoch ergriff ihn mit der Zeit das graue Alter, obgleich er eine unsterbliche Gattin hatte.